Der neue Tag beginnt so wie der alte endete: mit einer Schiffsfahrt. Während unseres Frühstücks an Bord schippert die „Classic Lady“ gemütlich über masurische Seen von Mikolajki hin nach Ryn (Rhein), einem 3.000-Einwohner-Städtchen im äußersten Westen unserer Masuren-Karte.

Auch die „Chopin“ macht sich von Mikolajki aus wieder auf den Weg
Ryn entstand rund um eine Festung des Deutschen Ordens, von der freilich nicht mehr viel zu erkennen ist: sie wurde häufig umgebaut und sieht inzwischen eher wie ein Barockschloß aus. Für die Besichtigung haben wir keine Zeit, wir wollen zur Wolfsschanze – aber nicht auf dem vorgeschlagenen kurzen Weg, sondern auf der Alternativ-Route über Ketrzyn (Rastenburg).
Die führt uns zunächst einmal bergan. Nicht sehr weit, einen Kilometer vielleicht, aber danach geht es fast 10 km weit nur bergab – es rollt sich herrlich auf dem Asphalt. In Nakomiady (Eichmedien) trennen sich die beiden Strecken (die direkt zur Wolfsschanze führende und die über Rastenburg).
Dachten wir. Und bogen falsch ab. Dabei hätten wir noch drei Kilometer auf der Hauptstraße bleiben müssen.Wir aber wählen irrtümlich einen anderen Weg. Und lernen gleich mal, dass es zwei Formen von Straßen in den Masuren gibt: Die aus Asphalt und die aus Sand.
Die aus Sand haben es in sich. Mit Steinen durchsetzt. Von Pferdehufen, Traktoren und Wildnis-fähigen Allradfahrzeugen zu unablässigen Wellen geformt, mit Schlaglöchern übersät.

Wo, bitte, geht es denn hier zur Straße?
Es rüttelt und schüttelt uns, wir denken „das kann doch nicht die offizielle Straße sein“ und suchen uns einen Weg zurück in die Radfahrer-Zivilisation. Just als wir den gefunden haben stelle ich fest: Mein Tacho ist weg. Bei der ganzen Rüttelei wohl aus der Halterung geflogen. Zerknirscht fahre ich die ganze Holperstrecke noch einmal zurück, aber es hilft nichts: Das 10-Euro-Teil bleibt verschwunden.
Nach ungefähr 20 km erreichen wir endlich Ketrzyn (Rastenburg). Eine kleine Ordensritter-Stadt, die uns vor allem durch ihre schöne Kirche (in der wieder gerade ein Gottesdienst stattfand, so daß wir auch sie nicht ausführlich besichtigen konnten) und einen klitzekleinen Mittelalter-Markt in Erinnerung bleiben wird, der in einem historischen Backstein-Hof aufgebaut worden war.

Beim Schmied erhalten wir ein Hufeisen
Ketrzyn gibt uns Gelegenheit zu einer Mittags-Pause, dort ist alles ganz gut auf Touristen eingestellt, die Speise-Karte gibt es auch auf deutsch. Prima.Aber wir wollen ja noch zur Wolfsschanze, also verweilen wir hier nicht allzu lange.
Auf dem Weg in Führers Hauptquartier könnte man denken, der Kerl residiert noch heute dort: Eine Völkerwanderung findet auf der Asphaltstraße statt. Viele Autos mit deutschen Kennzeichen, aber noch viel mehr mit polnischem. Einer nach dem anderen jagt an unserer kleinen Radlertruppe vorbei. Es geht bergauf und wir sind nicht so gut gelaunt wie die tausenden von Menschen, die in den Bunker-Park strömen.
Siggi, der Reiseleiter der geführten Radler-Truppe an Bord erklärt uns später den Grund: Es ist Feiertag in Polen. Die Menschen haben Zeit.

Den Schützenpanzerwagen kann man buchen. Salven aus der Bordkanone kosten extra
Und so ist das ehemalige Hauptquartier der Nazis im Osten heute eine riesige Kirmes. Mit mietbaren Schützenpanzerwagen, Schießständen, überfüllten Toiletten (im wahrsten Sinne des Wortes – sie wurden kurz nach unserer Ankunft „aus technischen Gründen“ geschlossen). Gruselig.

Schiessübungen in einem der Bunker
Des deutschen Widerstands, des Attentats auf Hitler, gemahnt man fast ein wenig pflichtschuldig. Die Baracke steht natürlich nicht mehr, an ihrer Stelle erinnert eine kleine Stein-Skulptur mit Inschrift an die Tat Stauffenbergs und seiner Mitstreiter. Polen wie Deutsche schauen sich das an und gehen sich dann richtig gruseln – in den meterdicken Betonwänden der gesprengten Bunker Hitlers, Görings, Bormanns, Jodels und wie sie alle hießen. 80 Stück gibt es davon auf dem 250 Hektar großen Gelände.Gesprengt haben sie die Deutschen selber, als die Rote Armee die nur gut 30 km entfernte Stadt Angerburg eingenommen hatte. Das war am 24. Januar 1945.

Die Überreste des Göring-Bunkers
Wenn man sich anschaut, wie eng das in diesen fensterlosen Verliesen war, wird einem klar, dass die alle an einer schweren psychischen Störung gelitten haben MUSSTEN …
Und während mir das ganze Volk und der verblichene Führer auf den Geist zu gehen beginnen, müssen wir doch noch länger als geplant in Bunkerasia verbringen: Einer unserer Radler hat sich was eingefangen. In seinem Hinterrad. Reifenwechsel erforderlich.

Wenn das mal kein Zeichen war …
Unser Ziel an diesem Tag ist die Anlegestelle der „Classic Lady“ in Gizycko (Lötzen) und das ist noch eine ganze Weile hin – 29 km laut Reisebeschreibung. Also versuchen wir die Wolfsschanze schnell hinter uns zu lassen. Fahren erneut über Feld- und Wiesenwege, kommen dann nach rund 10 km endlich am Ortseingang von Doba (Doben) wieder auf asphaltierte Straße. Hier hätten wir sicherlich prima rollen können, wenn nicht ein plötzlich bei strahlendem Sonnenschein einsetzender Starkregen die Euphorie gebremst hätte.

Regen und Sonnenschein
Zu Glück ist es nicht mehr so weit, nach weiteren 15 km erreichen wir den Ortseingang von Gizycko. Und wissen plötzlich nicht mehr weiter. Die Beschreibung im Begleitheft ist äußerst mißverständlich, wir wissen nicht, ob wir nun zur Festung Boyen fahren sollen oder aber die Straße, die zur Festung Boyen führt entgegengesetzt nutzen müssen (dies stellt sich dann als richtig heraus). Wir diskutieren, suchen, probieren Wege aus und finden dann irgendwann doch noch zum Schiff.
Laut Plan haben wir an diesem Tag 67 km zurückgelegt, ich bin mir ziemlich sicher es waren mindestens 77. Glücklicherweise steht an Bord immer ein frisch Gezapftes für uns bereit.

Geschafft.